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Vom Start bis zum ersten Kontrollpunkt

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  • Beitrags-Kategorie:2023 / TCR09

Am 23.07.2023 war es so weit: Race day. Der Start des Transcontinental Race TCR No9 um 22:00 Uhr war nur wenige Stunden entfernt. Ich hatte alles vorbereitet und gepackt. Nach einem gemütlichen Frühstück ging es für meine Frau und mich auf die etwas mehr als zweistündige Autofahrt nach Geraardsbergen. Nachdem es die ganzen letzten Wochen trocken gewesen war, zog pünktlich zum Start eine große Regenfront auf und es regnete. Am Anfang hatte ich noch die Hoffnung, es bliebe bei Schauern. Aber es sollte ganz anders kommen.

Auf dem Weg, kurz nach Brüssel, ein schneller Stopp bei einer Burger-Kette für einen Kaffee und weiter nach Geraardsbergen, der Stadt, an deren „Muur“ so manche entscheidende Attacke bei der Flandernrundfahrt in der Vergangenheit erfolgt war. Wir fanden direkt neben dem Jugendzentrum, in dem die Anmeldung stattfand, einen Parkplatz. Also nicht wie hin zur Anmeldung. Nach der Überprüfung der Personalien gab es den Tracker, die Rennmütze (#tcrno9cap11), den Check des Fahrrades mitsamt Sicherheitsausrüstung /Helm, reflektierende Weste), gefolgt von einer Einweisung in die Benutzung des Trackers. Danach war noch Zeit bis zum verpflichtenden Briefing um 17:00 Uhr, bei dem jeder Teilnehmer eine Brevetkarte erhalten sollte. Diese Karte war ab jetzt das wichtigste Dokument der nächsten Tage. Denn auf der Brevetkarte werden die Zeiten beim Erreichen der Kontrollpunkte mitsamt entsprechendem Stempel vermerkt. Bis 17:00 war wie gesagt noch Zeit, um etwas zu essen, und die Stadt zu erkunden. Das Wetter war saumäßig. Regen und Wind. Viele Teilnehmer verkrochen sich in Häusereinfahrten, Bushaltestellen, oder irgendwo, wo man nicht komplett durchnässt wurde. Die wie wir mit dem Auto angereisten, verbrachten die Zeit im Auto, auf dem Beifahrersitz, oder den Ladenflächen, je nach Gefährt.

Beim Briefing wurden abermals die wichtigsten Regeln erklärt. Auch die viel diskutierte Axenstrasse in der Schweiz wurde erwähnt. Im Vorfeld gab es etwas Verwirrung, ob man auf der Straße (bzw. dem kombinierten Rad/Fußweg) fahren darf, oder nicht. Letzten Endes wurde es von den Schweizer Behörden untersagt. Meiner Meinung nach auch voll zurecht. Ich war dort ein paar Wochen vorher mit dem Auto zum Start des #swissbikeadventure (SBA) lang gefahren. Zwar ist der kombinierte Rad/Fußweg im Prinzip breit genug, bei 300 Teilnehmern könnte es aber trotzdem zu gefährlichen Situationen führen. Es war eine gute Entscheidung, die Straße für das Rennen zu verbieten. Ich hatte meine Route im Vorfeld schon entsprechend umgeplant. Das Briefing dauerte nur eine knappe Stunde, blieben also noch 4 Stunden um etwas zu essen und zum Erholen und Schlafen. Der Regen wurde immer heftiger. Laut Wettervorhersage sollte es aber zum Start um 22:00 mit dem Regen vorbei sein. Zumindest für ein oder zwei Stunden. Wir gingen abermals zum Marktplatz und aßen Pizza oder Nudeln. Mehrere Teilnehmer gesellten sich zu uns, so auch Jesper Avén aus Schweden, mit Startnummer 238. Unsere Wege sollten sich seltsamerweise öfters kreuzen.

Um 21:20 machte ich mich fertig. Rad aufpumpen, Trinkflaschen ans Rad, Regenjacke, Helm, und Signalweste anziehen, um gegen 21:45 langsam zum Start auf dem Marktplatz rollen. Schon vor Erreichen des Starts bemerkte ich, dass der extra gewechselte Flaschenhalter für meine Werkzeugflasche gebrochen war. Jetzt war keine Zeit mehr zu tauschen (hatte eh keinen Ersatz mit), also wurde das ganze etwas rudimentär mit einem Klett Band fixiert. „Wie lange das wohl halten wird?“, überlegte ich.

Start um 22:00 Uhr in Geraardsbergen

Auf dem Marktplatz angekommen, war ich einer der rund 360 Starter. Große Nervosität bei vielen. Ich verabschiedete mich von meiner Frau und entschloss mich recht weit hinten zu starten. Nicht alle der Teilnehmer sind firm im Pulk zu fahren. Geschweige auf nassem Kopfsteinpflaster eine 18-prozentige Steigung im Feld nach oben zu fahren. Der Bürgermeister startete das Rennen mit der traditionellen Ansage, und alle Teilnehmer machten sich auf den Weg zu einer Platzrunde um den Ort, um nochmals durch den Startbogen fahrend, dann die bekannte „Murr van Geraardsbergen“ in Angriff zu nehmen. Freunde und Verwandte standen mit Fackeln entlang der Muur und jubelten uns zu. Eine tolle Stimmung, von der man förmlich nach oben getragen wurde. Jedenfalls, solange bis vor mir jemand die Idee hatte zu schalten. So etwas geht selten gut. Also stand er, und ich umgehend auch. Anfahren ist dort nicht möglich, sodass ich ein paar Meter laufen musste. Ich machte mir etwas Sorgen um meine Schuhe. Rückblickend auf was später folgen sollte, kann ich jetzt nur darüber lachen.

Nach der Kapelle auf dem Kopf der Murr ging es auf regennasser Straße weiter Richtung Südost. Es dauerte einige Stunden, bevor sich die Teilnehmer vereinzelten. Man sah über Kilometer weit blinkende Rücklichter. Zunächst war es auch trocken, von oben zumindest. Es gab viele Stürze der anderen Teilnehmer auf belgischen Straßen. Ich hatte die ganzen geplanten 3700 km immer wieder auf Google Streetview durchgeschaut. Eine gefährliche Stelle in Belgien war in einem kleinen Ort, an dem Eisenbahnschienen von der Seite fast parallel laufend auf einem Stück sehr schlechten Kopfsteinpflasters, mit einer Linkskurve folgend, trafen. Man konnte sich die Stelle gut merken, da es vorher durch eine Art Stadttor ging. Ich habe sie auch im Dunkeln direkt erkannt, und meine Fahrt entsprechend verlangsamt. An der linken Seite der Straße waren ca. 1,5 m ohne Schienen Platz und ich rollte gemächlich dort entlang. Am Ende der Linkskurve stand ich dann inmitten eines Gewitters von Blaulichtern. Mehrere Rettungswagen, Feuerwehr, Polizei, vielleicht auch belgische Armee? Leider war da für so manchen Teilnehmer schon das Ende des Rennens erreicht. Sehr böse Stürze. Zumindest wurden alle professionell versorgt. Und es bestand für niemanden Lebensgefahr. Nach dieser Gefahrenstelle fuhren alle irgendwie ruhiger. Wenig später gab es auch eine WhatsApp vom Veranstalter, der auf diese Gefahrenstelle explizit hinwies. Es sollten noch viele WhatsApp Nachrichten in den kommenden Tagen folgen.

Es ging weiter Richtung Frankreich. Gegen 1:30 Uhr begann es wieder stärker zu Regen. Kurz nach 2:00 Uhr war kein weiter fahren für mich wegen des Starkregens mehr möglich. Ich stellte mich an einer Tankstelle unter, und bekam in den folgenden Minuten viel Gesellschaft von anderen Teilnehmern. Als es etwas weniger regnete, entschied ich mich weiterzufahren, denn durch das Herumstehen wurde mir langsam kalt. Zum Glück ließ der Regen später nach, und vor Erreichen der französischen Grenze hörte es ganz mit regnen auf. Es war mittlerweile 4 Uhr morgens, und ich war müde. Kurz entschlossen machte ich 500 m vor der Grenze an einer Kirche halt, und legte mich zu einem kurzen Powernap ins Kirchenportal. Danach ging es weiter und schon kurze Zeit später wurde es am Horizont langsam hell. Gegen 6:10 Uhr endlich eine Bäckerei. Dort gab es frisches Baguette und Croissants, sowie Kaffee. Was für eine Wohltat. Nach der kurzen Pause ging es weiter in Richtung Metz. Das war mein Tagesziel. Ich stoppte kurz zum Zähneputzen und für eine kleine „Katzenwäsche“ bevor es für die nächsten Stunden immer wieder an Bunkern und der Frontlinie des Ersten Weltkrieges entlang Richtung Südosten ging. Kombiniert mit dem Schauerwetter trug es nicht sonderlich zur Stimmung bei, durch Gegenden und Landschaften zu fahren, wo tausende von Menschen ihr Leben gelassen hatten. Immer wieder machte ich in den überdachten Bushaltestelle eine kleine Pause mit Powernap, wenn der Regen zu stark wurde. Einmal war es sogar eine kleine Kapelle, die offen war.

Metz erreichte ich gegen Mittag des ersten Tages. Nun endlich kam auch ab und zu einmal die Sonne heraus. Mein Weg ging quasi mitten durch die Stadt, die sich als wenig Fahrrad freundlich herausstellte. Nach Metz ging es weiter durch kleine Dörfer Richtung Südost. Meine Überschuhe waren viel zu eng und schnitten mir in meine Waden. Also weg damit in den nächsten Papierkorb. Es ging gut voran, und in Frankreich findet man in jeder größeren Stadt genügend Einkaufsmöglichkeiten. Gegen 17:00 entschied ich mich ein Airbnb zu buchen. Ich wollte noch bis mindestens 22:00 Uhr fahren, und buchte entsprechend eine Unterkunft ca. 100 km entfernt. Mein ursprünglicher Plan sah eigentlich vor, die erste Nacht draußen zu schlafen. Aber für die Nacht war Regen angesagt, und davon hatte ich genug. Gegen 22:00 Uhr erreichte ich die Unterkunft, und genossen die Dusche und die Möglichkeit meine Powerbanks und Geräte aufzuladen. Etwas über 400 km lagen nun hinter mir. Ich poste noch schnell etwas und schlief ein, während draußen bereits wieder der Regen an die Fensterscheibe prasselte. Die Gastgeber ließen es sich nicht nehmen, mir für den kommenden Morgen ein Frühstück zu bereiten. Zwar kostete das mich sicher eine halbe Stunde, aber das war es wert.

Am Dienstagmorgen ging es zunächst entlang eines kleinen Kanals Richtung Osten bis Saverne. Danach änderte sich die Route Richtung Süden. Leider änderte sich das Wetter nicht sonderlich. Immer wieder Schauer, zum Teil sehr heftig, mit Gewitter. In Schlettstadt fand ich endlich ein Radgeschäft, um einen neuen Flaschenhalter und Flickzeug für meine Tubeless Reifen zu kaufen. Das Flickzeug lag zu Hause; irgendetwas vergisst man wohl immer. Vor Basel zog ein heftiges Unwetter aus Westen kommend Richtung Schwarzwald. Auf der Strecke lagen Laub, Äste und sogar Bäume. Zum Glück war ich so spät, dass ich nicht in das Unwetter hinein geraten bin. Die Strecke lief gut, und ich war mit meiner Wahl, die Vogesen zu umfahren sehr glücklich.

Vor Basel ging es über den Rhein zu einem Kurzauftritt nach Deutschland. Etwas über 500 m Heimatland, bevor es direkt nach Basel in die Schweiz ging. In Basel war viel Verkehr. Durch die Stadt ging es trotzdem sicher auf Radwegen. Als es aus der Stadt hinausging, mache ich eine Pause. Es war schon mehrere Stunden trocken, was für ein Genuss. Nach rund 600 km Distanz gibt es zum ersten Mal wirklich bergauf. Wenn auch nur auf ca. 600 m, dafür aber wieder bei starkem Regen. Zu meiner Überraschung standen kurz vor Ende des Anstiegs mehrere Dotwatcher am Rand ,die mich und einen anderen Teilnehmer, den ich gerade passiert hatte, anfeuerten. Die richtige Motivation zur richtigen Zeit. Auf der anderen Seite des Berges schien die Sonne und ich erreiche einen Supermarkt, wo ich für den Rest des Tages Proviant einkaufte. Als ich auf das Rad stieg, um loszufahren, verhakte sich meine Proviant Tasche an einem Werbeschild, und riss. Ich konnte mit Knoten und Kabelbindern das ganze so weit wieder in Ordnung bringen, dass ich weiter fahren konnte. Die Konstruktion hielt aber nur bis kurz vor Sursee. Dort musste ich alles irgendwie in die anderen Taschen packen und mein Beutel fasste nur noch leichte Sachen. Auf dem Weg nach Emmen fuhr ich an einer Pizzeria vorbei. Schon wenige Meter, nachdem ich die passiert hatte, setzte bei mir ein Hungergefühl ein. Der Duft war einfach zu gut. Umdrehen war nicht. In Emmen fand ich einen Schnellimbiss, in dem es ebenfalls Pizza (und eine sehr leckere) gab. Draußen tobte ein Gewitter mit Starkregen, während ich mir die Pizza schmecken ließ. Immer noch bei starken Regen fuhr ich weiter, durch Luzern und Richtung Flüelen. Es war dunkel, nass, und schon spät. Airbnb? Nichts zu finden. Wegen des andauernden Regens ließ sich mein Telefon nicht mehr laden. Schlimmstenfalls müsste ich dann auf mein Ersatztelefon wechseln, also kein Problem. Auf Google Maps entdeckte ich etwas, dass wie ein überdachter Platz aussah. Etwas abseits der Strecke, aber einen Versuch wert. Was ich nicht wusste war, dass es bis dorthin sehr steil bergauf ging. Google schickt mich außerdem über eine Wiese. Dort angekommen sah ich, dass es sich um eine Schule mit überdachtem Pausenhof handelte. Perfekt, zumindest bis ich den Hof betrat. Bewegungsmelder und Flutlicht. Mitten in einem Dorf. Das mögen die Schweizer bestimmt nicht, wenn man hier übernachtet. Zum Glück gab es unter dem überdachten Bereich eine Art Hütte, die einen 45 cm breiten Spalt zur Wand aufwies. Genügend breit für mein Rad und mich, und im toten Winkel der Bewegungsmelder. Das Rad nutzte ich als Wäscheständer für die durchnässten Sachen, und ich verkroch mich nach dem Aufblasen der Isomatte gegen 23:30 Uhr in meinen Schlafsack. Um 4:00 Uhr klingelte mein Wecker. Nachdem ich die Ladebühne mittels Papiertaschentuch getrocknet hatte, konnte ich selbiges morgens beim Frühstück laden.

Zum Frühstück gab es einen Joghurt, einen kalten Kaffee, eine Packung Kekse, und ein Stück Pizza. Nicht schlecht. Es ging dann weiter Richtung Flüelen. Hinter Emmetten stieg die Straße an. Und zwar richtig. Mehr als 300 Höhenmeter auf kurzer Distanz. Kurz vor Ende des Anstiegs gab es eine Seilbahn mit öffentlicher Toilette. Wie immer in der Schweiz perfekt, sauber und in Ordnung. Oben angekommen ging es rechts ab und nach ein paar Kilometern erreichte ich das Ende der Straße. Weiter runter ins Tal ging es nur zu Fuß, mit vielen Treppenstufen. Das Ganze war schwieriger als erwartet. Zum einen, weil ich das Rad die meiste Zeit tragen musste, zum anderen, weil die Stufen sehr rutschig waren. Treppen, Leitern und ich werden niemals Freunde werden. Aber es war Teil meiner Route, und die Alternative mit einem Gravel Stück auf der anderen Seite des Sees stand für mich nicht zur Diskussion. Kurz vor mir befand sich Jesper Avén, den ich ja bereits am Abend des Starts zufällig in einem Restaurant in Geraardsbergen kennengelernt hatte. Nach einer guten halben Stunde war diese Episode geschafft, und ich konnte wieder Rad fahren. Dadurch, dass ich meine Überschuhe weggeworfen hatte, bekam ich Schmerzen an meiner Achillessehne am rechten Bein. Ich bin da, was Kälte angeht, sehr empfindlich. In Flüelen angekommen fuhr ich zu einem Radgeschäft, mit dem Vorsatz mir neue Überschuhe zu kaufen. Die Wettervorhersagen für den Gotthard versprach Regen oder sogar Schnee. Mit 180 Schweizer Franken für ein Paar Überschuhe konnte ich mich aber nicht anfreunden, und so zog ich ohne Überschuhe weiter. Die Gotthard Straße zog sich bergauf. Weniger Verkehr als ich erwartet hatte. In einem Supermarkt in Wassen habe ich neben Sandwiches und einer Packung mit 14 mini Snickers noch eine Rolle Frischhaltefolie gekauft. Aus dieser habe ich mir provisorische Überschuhe gebastelt. Weitere ging es Richtung Andermatt. Eine tolle Kulisse, an der man entlang fährt. Mit dem Auto schon eindrucksvoll, mit dem Rad aber noch mehr, da man auf kleineren Wegen direkt durch die skurrile Landschaft fährt. In Andermatt fuhr ich kurz zur Teufelsstatur, dem Ziel des SBA von vor ein paar Wochen. Ein indisches Touristenpaar konnte es nicht fassen, dass man in diesen Bergen Rad fahren kann. Sie ließen sich mit meinem Rad fotografieren, um es ihren Freunden in Indien zeigen zu können. Für mich ging es darauf hin die letzten Kilometer die Gotthardstraße zum Pass hinauf. Ich entschied mich auf der neuen Straße zu fahren. Die Tremolo war ich ja einen Monat vorher bei schönstem Wetter gefahren. Bei nasser und kalter Witterung wollte ich mir das Kopfsteinpflaster ersparen. Nach dem obligatorischen Foto auf der Passhöhe ging es in die Abfahrt. Nach ein paar Kilometern muss man mit dem Rad aber auf die Tremolo, da sich die Straße in eine Autobahn verwandelt. Unten angekommen zeigte das Thermometer plötzlich 25 Grad Celsius an. Endlich Sonne, endlich raus aus der Regenjacke. Und weiter ging es Richtung Bellinzona. Am gleichen Tante-Emma-Laden, an dem ich mir im Juni ein leckeres Ciabatta belegen ließ, hielt ich wieder an. Ein Eis, eine Limo und ein belegtes Ciabatta. Mehr konnte ich nicht einkaufen, war doch der Beutel kaputt. Und nirgendwo fand ich Ersatz.

Dann, noch vor Bellinzona auf dem Flachstück, plötzlich Stiche im rechten Knie. Weiter fahren? Stoppen? Wieso rechts? Mein Problemknie ist doch links. Ich stoppte. Was tun? Die Schmerzen waren so stark, dass ich schon fürchtete, das TCR sei noch vor dem ersten Kontrollpunkt vorbei. Kurze Pause. Dann mit schmerzen weiter. Etwas langsamer, aber vorwärts. Nach einer halben Stunde, noch vor Bellinzona verschwanden die Schmerzen ebenso spontan, wie sie gekommen waren. Es sollte nicht zu letzten Mal der Fall sein…

In Bellinzona startete der erste Parcours, d.h. eine fest vorgegebene Strecke, die von allen Teilnehmern absolviert werdend musste. Von hier aus ging es den San Bernardino hoch. Ein langer, aber moderater Anstieg von 2006 Höhenmetern auf 52,1 km. Auf halber Strecke brauchte ich etwas zusätzliche Motivation, und ich öffnete meine Notration „Vampire“, die mit Freunde noch am Vorabend des Starts vorbeigebracht hatten. Wir waren eine Handvoll Teilnehmer, die sich immer wieder gegenseitig überholten. Jeder fuhr sein eigenes Tempo. Unterhalb vom Ort Bernardino zog ich dann die wärmeren Sachen an. Die Sonne war untergegangen, und es wurde frisch, die Zeit von kurzer Hose und kurzärmligem Trikot vorbei. Kurz vor 22:00 war ich im Ort. Viele Teilnehmer entschieden sich spontan dort ein Hotel zu nehmen. Ich wollte aber noch weiter bis Splügen. Es wurde kalt, sehr kalt. Drei Grad Celsius. Also alles angezogen, was ich dabei hatte. Am Ortsausgang befindet sich eine Tankstelle. „Schnell noch etwas Proviant kaufen“ dachte ich. Aber der Plan ging nicht auf. Es war 22:01 Uhr, und die Tankstelle machte um 22:00 zu. Es war noch auf, Licht brannte, aber die Tankwartin wollte weder mir noch einer Teilnehmerin aus England etwas verkaufen. Ich verabschiedete mich wenig höflich, aber es kam von ganzem Herzen…

Während die Autos nach der Tankstelle durch den Tunnel fahren, müssen die Radfahrer über den Pass zur Passhöhe. Nach einigen Kilometern bei tollem Mond war diese dann auch eine Stunde später endlich erreicht. Die Abfahrt fuhr ich vorsichtig herunter. Im Tal fand sich keine freie, überdachte Möglichkeit für ein Nachtquartier. Überall dort, wo eine Gelegenheit war, stand schon ein Fahrrad. In Splügen entschied ich mich nicht noch den Splügenpass zu fahren. Ich war zu müde. Eine große Bushaltestelle, eher eine Art Hütte, bot Platz für viele, aber es waren schon 4 oder 5 Teilnehmer mitsamt Rädern in selbiger. Vor der Haltestelle war eine Bank, die ich dann belegte. Es waren lediglich 5 Grad Celsius. Grenzwertig für meine Ausrüstung. Gegen 2:30 Uhr, ich konnte nur wenig schlafen, da ich immer von meinem Zähneklappern wurde, machte sich ein Teilnehmer auf, um über den Pass zu fahren. Ihm ging das Geschnarche eines Kollegen zu sehr auf die Nerven. Perfekt. Denn dadurch wurde für mich ein Platz im Häuschen frei. Ohrstöpsel rein, und gute Nacht. Um 5:30 Uhr klingelte der Wecker. Schnell einpacken und die noch verbliebenen Riegel essen. Der Supermarkt im Ort hatte noch geschlossen, und so ging es den Splügenpass (8,7 km | 653 Hm | 7,5 %) mit fast leeren Magen hinauf. Die Passhöhe erreichte ich gegen 8 Uhr. Es pfiff ein kalter Wind, und die Abfahrt war, abgesehen von der wunderschönen Kulisse, eher ein Kampf gegen die Kälte. Vierzig Minuten später, und einige Höhenmeter weiter unten, fand ich dann einen Supermarkt mit Bäckerei.

Jetzt erst einmal gut frühstücken und Proviant kaufen. Es wurde nun auch merklich wärmer, was sicher auch daran lag, dass ich endlich wieder etwas zu essen hatte. Am Ende der Abfahrt ging es links ab Richtung Sankt Moritz. Die stark befahrene Straße zieht sich kilometerweit zum Maloja Pass hinauf. Irgendwie lief es überhaupt nicht. Kein Druck, keine Moral und Knieprobleme. In Vicosoprano war Schluss. Ich stoppte und war kurz davor aufzugeben. Ich machte einen Powernap und zwang mich danach in Bewegung zu bleiben. Den Maloja (31 km | 1490 Hm | 4,8 %) hinauf lief es immer noch nicht, auch wenn ich einige Teilnehmer überholen konnte. Oben angekommen, wurde ich von einem atemberaubenden Ausblick überwältigt. Die anderen Teilnehmer sahen auch alle so aus, wie ich mich fühlte. Das gab mir irgendwie genügend Energie, um Richtung Sankt Moritz weiterzufahren. Es ging mit Schiebewind leicht bergab. Irgendwie habe ich mir da meine Beine frei gefahren, auf einmal stimmte alles. Sonne, Geschwindigkeit, Aussicht.

In Sankt Moritz erst einmal in den Lidl. Und dort gab es Rucksäcke. Große, und keine. Die kleinen eigentlich für Kindergartenkinder, glaube ich. Passten so gerade. Und groß genug für das, was man so einkauft. Ich fand den Rucksack auch irgendwie lustig. Wie sich später zeigen sollte, nicht nur ich, wurde er doch oft fotografiert und in den sozialen Medien gepostet. Mit Verpflegung, Rucksack, und guten Beinen ging es sofort weiter. „Noch den Berninapass (2330 m, 17 km | 616 Hm | 3,6 %) und den Pass for Livigno (2315 m, 3,5 km | 261 Hm | 7,5 %), und ich bin am ersten Kontrollpunkt“ überlegte ich. Der Bernina Pass war nicht ohne. Nicht sonderlich steil, aber der Gegenwind tat weh. Oben angekommen wartete ein Dotwatcher, der auch ein paar Aufnahmen von mir machte. Eine kurze Abfahrt, und es ging hinein nach Italien, Richtung Livigno.

Den letzten Anstieg und die Abfahrt bin ich wie im Rausch gefahren. Am Kontrollpunkt wurde mein Rucksack bestaunt und fotografiert. Nachdem meine Brevet Karte ausgefüllt und gestempelt wurde, genehmigte ich mir eine Pizza und ein alkoholfreies Bier. Während ich das Mahl genoss, buchte ich mir ein Zimmer in Bergamo. Bis dorthin sollte es heute noch weiter gehen.